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Vanasthali und die Situation der Frauen in Indien

Situation der Frauen in Indien

Nach der schrecklichen Vergewaltigung/Mord an einer jungen Frau in Delhi im Dezember 2012 fragten viele Freunde, ob die Situation der Frauen in Indien wirklich so schlimm sei.  Da die Arbeit von Vanasthali sich sowohl auf die Kinder als auch auf die Frauen auswirkt, möchte ich (Sharon Füller, ehem. Präsidentin von Panah) gern meine Einschätzung der Situation von Frauen in Indien teilen.

Sexuelle Gewalt war bisher in Indien ein Tabu-Thema. Dies hat sich durch den Fall in Delhi geändert. 2011 wurden in ganz Indien 220'000 Übergriffe auf Frauen und 24'000 Vergewaltigungen von Frauen registriert. Gemäss einer Untersuchung von Thomsom Reuters gehört Indien damit zu den für Frauen schwierigsten Ländern überhaupt. Eine indische Freundin, die nun im Ausland lebt, sagte mir, dass sie sich in Indien nicht weniger sicher fühlt als in einer westlichen Grossstadt. Aber sie gehört zur oberen Mittelschicht, kennt ihre Rechte und weiss, dass sie Übergriffe melden kann und ausserdem kann sie es sich leisten, im Privatauto unterwegs zu sein. Im heutigen Indien haben sich die Frauen der oberen Mittelschicht Freiheiten und Rechte erkämpft und beanspruchen in den letzten Jahren mehr Platz in der Öffentlichkeit und im Arbeitsleben. Das ist die eine Seite der Medaille, doch für ärmere Frauen sieht die Situation anders aus.

Zwar können heute 2/3 aller Frauen in Indien lesen (mehr als doppelt so viele wie 1990) und vor Verfassung und Gesetz gilt schon lange die Gleichstellung von Mann und Frau. Doch in der Gesellschaft sind noch viele frauenfeindliche Traditionen erhalten, die dazu führen, dass vor allem auf dem Land und in den unteren Schichten der Städte Töchter als eine Last empfunden werden und Frauen weniger Wert haben als Männer:

  • Obwohl gesetzlich verboten, ist es üblich, dass die Frau eine Mitgift in die Ehe mitbringt. Um ihre Töchter verheiraten zu können, stürzen sich viele Familien dadurch in hohe Schulden. Der Sohn hingegen bringt durch die Heirat Geld (Mitgift seiner Braut) in die Familie. Falls die Mitgift aus Sicht der Familie des Ehemanns zu gering ausgefallen ist, kommt es auch immer wieder zu Streitigkeiten und zu Mitgiftmorden, bei denen die junge Ehefrau oft mit Kerosin übergossen und angezündet wird, um einen Unfall vortäuschen zu können.
  • Der Sohn bleibt nach der Hochzeit zu hause und sorgt für die Eltern im Alter. Er ist damit ihre Altersvorsorge. Die Tochter jedoch zieht in die Familie ihres Ehemanns.

Töchter sind also für ihre Familie mit hohen Kosten und wenig Nutzen verbunden. Deswegen werden viele Mädchen vernachlässigt, erhalten weniger Ausbildung, weniger Essen, werden sogar nach der Geburt ermordet oder schon vor der Geburt gezielt abgetrieben. Die Abtreibung von weiblichen Föten hat mit der Modernisierung (Ultraschalluntersuchungen) sogar noch zugenommen, obwohl die Bestimmung des Geschlechts vor der Geburt aus diesem Grund gesetzlich verboten ist. Die überschwängliche Freude eines Vaters über die Geburt eines Sohnes habe ich in Udgir selbst einmal miterlebt und wir hatten uns gefragt, wie der Vater wohl auf die Geburt einer Tochter reagiert hätte.

All dies führte dazu, dass Indien eines der wenigen Länder ist, wo es mehr Männer als Frauen gibt (je nach Quelle ca. 914 Frauen auf 1000 Männer). Ausserdem werden Söhne von ihren Müttern oft immer noch wie Könige behandelt und als Machos erzogen, die glauben, der Frau in jeder Hinsicht überlegen zu sein. In ihrem Wertesystem ist es damit in Ordnung, Frauen zu schlagen.

Häusliche Gewalt und Gewalt gegen Frauen wird in vielen Schichten der indischen Gesellschaft toleriert und totgeschwiegen. Ein Grund dafür ist sicher, dass die indische Polizei und Justiz korrupt, ineffizient und patriarchalisch eingestellt ist. Dies führt dazu, dass Täter oft straflos davon kommen und Opfer plötzlich verantwortlich für die Übergriffe gemacht werden, weil sie sich z.B. noch spät abends auf der Strasse „herumgetrieben“ haben. Ausserdem trauen sich die Frauen oft nicht, sich zu wehren und melden Übergriffe erst gar nicht. Das soziale Stigma (verletzte Ehre) ist sicher ein wichtiger Grund dafür, dass Frauen ihre Stimme nicht erheben, doch aus meiner Sicht liegt es auch daran, dass viele Frauen ihre Rechte gar nicht kennen, wenig Selbstvertrauen haben und sich z.B. durch einen Polizisten schnell einschüchtern lassen und dass sie oft ausserhalb ihrer Familie wenige bis keine Kontakte haben.

Vanasthali und die Frauen

Vanasthali gelingt es mit seinen Trainingskursen, die die ganze Persönlichkeit der Frauen fördern und auch Themen wie Gesundheit, Ernährung und Familienplanung beinhalten, sowie mit seiner ständigen Unterstützung der Frauen, die als Kindergärtnerinnen oder in Hobbyklassen arbeiten, das Selbstvertrauen der Frauen wie auch ihren sozialen Status zu stärken. Zusätzlich gibt Vanasthali den Frauen ein Netzwerk ausserhalb der Familie, gibt ihnen Vorbilder und holt sie so aus ihrer Isolation.

Ich konnte schon oft sehen, wie Frauen am Anfang des Trainingskurses noch sehr schüchtern waren und sich nicht trauten, etwas zu sagen. Ein Jahr später sprachen die gleichen Frauen dann plötzlich furchtlos vor einer grossen Gruppe (inklusive Männern) und vertraten ihre Meinung. Die Frauen erzählen mir auch, wie sie ihre Ideen in den Schulbetrieb einbringen und von Lehrern (Männern) gehört und geschätzt werden. Ich kann jeweils richtig sehen, wie stolz sie auf sich selbst sind und wie sie regelrecht aufblühen. Die Vanasthali Frauen sagen ihre Meinung auch immer wieder in Artikeln, die sie für die Vanasthali-Zeitschrift „Bi-Monthly“ schreiben.

Dadurch dass Vanasthali die Trainingskurse lokal vor Ort durchführt, ist für die Frauen der erste Schritt aus der Isolation relativ einfach. Die Vanasthali-Frauen kommen aus den unterschiedlichsten Kasten und Religionen und haben oft im Trainingskurs zum ersten Mal überhaupt Kontakt mit Frauen aus anderen gesellschaftlichen Schichten. Dies war in Udgir z.B. auch der Fall für 6 Musliminnen, die dann im Trainingskurs sogar zum ersten Mal ihren Schleier vor fremden Leuten ablegten. Viele Frauen erzählen ihren lokalen Vanasthali-Supervisorinnen auch über ihre häuslichen Probleme (Alkohol, Gewalt,...). Dank Vanasthali haben die Frauen zum ersten Mal überhaupt die Chance solche Probleme anzusprechen!

Die Vanasthali-Frauen von Udgir besuchen seit ein paar Jahren jährlich einmal gemeinsam ihre Kolleginnen in Baramati. Für viele ist dies die erste Reise aus Udgir heraus, die sie auch gegen den Willen ihrer Familien machen. Bei diesem Austausch sehen die Frauen, was ihre Kolleginnen in Baramati, Frauen aus einfachen Verhältnissen wie sie selbst, zustande gebracht haben. So werden die Frauen gegenseitig für einander zu Vorbildern. Ein weiteres grosses Vorbild ist natürlich Nirmala Purandare, die Präsidentin von Vanasthali.

Die Situation der Frauen in Indien ist aus meiner Sicht tief in der Gesellschaft und ihren Wertvorstellungen verankert und wird sich darum nur langsam verändern. Vanasthali schafft es durch seine Arbeit, diese Traditionen im Sinne der Frauen zu beeinflussen. Ich bin sicher, dass Vanasthali-Frauen ihre Söhne nicht mehr zu kleinen Königen erziehen oder ihre Töchter vernachlässigen und dass sie gegen Unrecht ihre Stimme erheben werden. Dies ist zwar nur ein kleiner Tropfen auf den heissen Stein, aber doch ein Funken der Hoffnung.

(Sharon Füller, ehem. Präsidentin Panah Schweiz)

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